Behinderte fahren kostenlos in die Innenstadt von London – jetzt auch Schweizer
Für die Zufahrt in die Innenstadt von London mit dem Auto wird eine Gebühr von rund 15 Franken pro Tag erhoben, die «Congestion Charge». Von dieser sind Menschen mit einer Gehbehinderung ausgenommen – aber nur solche aus Grossbritannien und den Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), zu dem die Schweiz nicht gehört. Mit der Unterstützung der Schweizer Botschaft in London haben wir nun erreicht, dass auch Schweizer mit einer Gehbehinderung offiziell von der Gebühr ausgenommen werden.
Rejected!
Abgelehnt! Das hiess es völlig unerwartet, als wir unsere Ausnahmebewilligung von der Congestion Charge in London erneut verlängern wollten. Seit dem Jahr 2012 dürfen wir kostenlos nach London hinein fahren und machen das in der Regel auch während zwei Wochen pro Jahr. Denn meine Frau und ich verbringen unsere Ferien oft in Grossbritannien und insbesondere in London, wo wir auch eine Zeit lang gewohnt hatten. Da Flugreisen im Rollstuhl mit vielen Umtrieben verbunden sind, reisen wir lieber mit dem eigenen Auto nach Grossbritannien.
Vor sechs Jahren hatten wir das Gesuch zusammen mit einer Kopie der Schweizer Behindertenparkkarte meiner Frau nach England geschickt und es wurde sofort gutgeheissen. Damals kannten wir die genauen Voraussetzungen noch nicht. Wir wussten nur, dass London Menschen mit einer Gehbehinderung, die die öffentlichen Verkehrsmittel nicht genauso einfach benutzen können wie Menschen ohne Gehbehinderung, nicht dafür bestrafen will. Jedes Jahr wurde der «100% Discount» neu überprüft und bestätigt.
Dieses Jahr wurde uns dieser Gebührenerlass jedoch verweigert. Die zuständige Person beruft sich darauf, dass nur Inhaber einer im EWR ausgestellten Behindertenparkkarte von der Gebühr ausgenommen seien und dass die Schweiz nicht zu diesem gehört. Er fügte auf Rückfrage an, dass der Erlass der Gebühr für uns bisher irrtümlich erfolgte. Und das, obwohl wir in den letzten zwei Jahren dieselbe Kopie derselben Behindertenparkkarte eingeschickt hatten und die Bestätigungen von derselben Person unterzeichnet waren.
Obwohl die Schweiz tatsächlich nicht Mitglied des EWR ist, verfügt sie über zahlreiche bilaterale Abkommen mit der EWR bzw. der EU, die – so verstehen wir das zumindest – Schweizer in fast allen Belangen mit EWR- bzw. EU-Bürgern gleichstellen. Die Schweiz ist zudem (genauso wie das Vereinigte Königreich) Mitglied des International Transport Forum, das sich unter anderem für eine gegenseitige Anerkennung der Behindertenparkkarten und damit für eine möglichst freie Mobilität für Reisende mit einer Gehbehinderung einsetzt. Ausserdem soll die EWR-Regelung wohl einfach sicherstellen, dass nur legitime Behindertenparkkarten berücksichtigt werden, die in einem verlässlichen staatlichen Verfahren ausgestellt wurden. Das ist bei Schweizer Behindertenparkkarten ziemlich sicher gewährleistet.
Deshalb sind wir von der Entscheidung aus London bzw. dieser plötzlichen Kehrtwende überrascht. Wir empfinden diese Erschwerung der Zufahrt in die Innenstadt von London als eine ungerechtfertigte Schlechterstellung generell von Schweizern und insbesondere von Schweizern mit einer Gehbehinderung.
Gegenschlag…
Ich empfinde diese Regelung als sehr ungerecht und entschliesse mich, mich für eine Änderung einzusetzen – nicht nur für uns, sondern für alle Schweizer mit einer Behinderung, die mit dem Auto nach London reisen.
Ich verfasse also diverse Briefe, in denen ich das Problem schildere, und schicke sie an:
- Bundesrätin Doris Leuthard als Vorsteherin des UVEK
- Staatssekretär Roberto Balzaretti, den Direktor für europäische Angelegenheiten im EDA
- Alexandre Fasel, den Schweizer Botschafter in London
- die Britische Botschafterin in Bern
- den Britischen Staatssekretär für Verkehr
- die Vizebürgermeisterin von London, die für Verkehrsfragen zuständig ist.
In meinen Briefen bitte ich die Empfängerinnen und Empfänger:
- bei der zuständigen Behörde (Transport for London, tfl.gov.uk) oder den übergeordneten Behörden zu intervenieren und auf die Gleichstellung von Schweizern bzw. den Gebührenerlass auch für Inhaber einer Schweizer Behindertenparkkarte zu pochen,
- falls diese Intervention erfolglos sein sollte, sich im britischen Parlament für eine zumindest zukünftige Gleichstellung von Schweizern mit einer Gehbehinderung einzusetzen.
…mit Erfolg!
Einige Tage später und kurz vor unserer Abreise Richtung England erhalten wir einen Anruf aus London. Transport for London hat unseren Fall neu geprüft und im Rahmen ihres Ermessensspielraums eine Ausnahme gewährt: Die Ausnahmebewilligung wird uns weiterhin gewährt. Auch bisher sei dies im Rahmen ihres Ermessensspielraums erfolgt. Und er werde abklären, aus welchem Grund das plötzlich geändert wurde.
Per Post trifft eine Antwort von Bundesrätin Leuthard ein, in der sie meine Annahmen bestätigt. Obwohl die Schweiz nicht zum EWR gehört, habe sich Grossbritannien zur gegenseitigen Anerkennung der Behindertenparkkarten verpflichtet. Sie vermutet eine unzulässige Diskriminierung und damit einen Verstoss gegen die bilateralen Verträge. Sie will die Rechtslage durch das Bundesamt für Strassen (ASTRA) genauer prüfen lassen.
Und ich erhalte ein E-Mail der Schweizer Botschaft in London. Der für politische und rechtliche Angelegenheiten zuständige Mitarbeiter des Botschafters informiert uns darüber, dass er in Kontakt mit Transport for London steht, um eine Lösung zu finden.
Eine Lösung für alle Schweizer
Mittlerweile, bereits in England, teile ich dem Mitarbeiter des Botschafters den aktuellen Stand mit und versichere ihm, dass wir nicht nur für uns eine Ausnahme möchten, sondern eine generelle Lösung dieser Angelegenheit für sämtliche Schweizerinnen und Schweizer mit einer Behinderung anstreben, die in London mit dem Auto unterwegs sind (mit dem eigenen Auto oder einem Mietwagen: Auch dieser könnte kurzfristig im Online-Konto hinterlegt werden). Deshalb bitte ich ihn, seine Verhandlungen mit Transport for London und den Londoner Behörden weiterzuführen mit dem Ziel, dass sie die Schweizer Behindertenparkkarte analog einer Behindertenparkkarte aus dem EWR-Raum anerkennen.
Nach unserer Rückkehr in die Schweiz erhalte ich dann ein weiteres E-Mail von ihm. Er schreibt mir:
«I am (…) happy to inform you that, following our intervention, TfL decided to change their policy regarding the recognition of Swiss Blue Badges. Holders of Swiss Blue Badges are therefore eligible to register for the 100% discount on the Congestion Charge.»
Übersetzt heisst das, dass Transport for London aufgrund unserer Intervention ihre Richtlinien betreffend die Anerkennung von Schweizer Behindertenparkkarten geändert hat. Inhaber einer Schweizer Behindertenparkkarte sind ab sofort nun auch berechtigt, sich für den 100% Rabatt zu registrieren.
Wir hatten Erfolg!
Jetzt den Antrag stellen
Wer sich nun ebenfalls für den kostenlosen Zugang zur Innenstadt von London registrieren möchte, kann das hier tun:
Blue Badge Discount
(In Grossbritannien werden Behindertenparkkarten «Blue Badge» genannt)
Auf der Webseite von Transport for London müssen Antragstellende zuerst ein Benutzerkonto erstellen («London Road User Charging account») und dann den Anweisungen folgen. In typisch Britischer Manier ist alles extrem klar und verständlich beschrieben. Die Webseite bietet ganz unten auch eine Übersetzungsmöglichkeit auf Deutsch an. Gute Reise!
Für die Fahrt von Bern in die Innenstadt von London benötigen wir jeweils ungefähr elf Stunden, inklusive Wartezeit in Calais für den Eurotunnel-Zug unter dem Ärmelkanal hindurch. Immer mehr Autobahnraststätten in Frankreich haben Behinderten-WCs und sowieso alle in Grossbritannien.