Ladestationen: Viele Kantone diskriminieren Menschen mit Behinderungen

«Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.» Das sagt die Schweizer Bundesverfassung in Artikel 8, und ein sehr ähnlicher Text ist auch in den Kantonsverfassungen zu finden. Die Bundesverfassung bestimmt zudem, dass Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten per Gesetz vorgesehen werden sollen, was im Behindertengleichstellungsgesetz zumindest teilweise erfolgt ist.

Das Grundrecht richtet sich in erster Linie an Behörden und alle, die staatliche Aufgaben erfüllen. Sie müssen in allen Belangend dafür sorgen, dass keine Diskriminierung erfolgt. Diese kann in Form einer Benachteiligung erfolgen. Die Ladestationen stehen zwar theoretisch für alle zur Verfügung. Trotzdem kann nicht argumentiert werden, dass damit die ganze Bevölkerung gleich behandelt wird. Denn viele Ladestationen können von Menschen mit Behinderungen nicht benutzt werden können. Das Bundesgericht hält für diese Rechtsgleichheit fest: «Gleiches ist nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, Ungleiches ist nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln.» Das heisst: Da die Situation für Menschen mit Behinderungen eine andere ist, muss mit «ungleichen» Massnahmen im Sinne einer speziellen Regelung sichergestellt werden, dass sie das Angebot genauso nutzen können.

Zwar sind Einschränkungen von Grundrechten möglich, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Die wichtigste dieser Voraussetzungen ist eine ausreichende rechtliche Grundlage für die Einschränkung. Eine solche fehlt in Bezug auf Ladestationen gänzlich. Wir können also festhalten: Sind Behörden beteiligt, müssen sie dafür sorgen, dass Ladestationen von allen, also auch von Menschen mit Behinderungen, benutzt werden können.

In erster Linie ist dabei der Gesetzgeber gefordert, Vorschriften zu erlassen und damit sicherzustellen, dass keine Diskriminierung stattfindet. In Bezug auf die Erstellung von Behindertenparkplätzen in Parkhäusern und auf grösseren Parkplätzen existieren solche Vorgaben in den meisten Kantonen und Gemeinden. Vorschriften in den Baugesetzen schreiben genau vor, wie viele Parkplätze im Rahmen eines Bauvorhabens als Behindertenparkplätze zu markieren sind.

Explizite gesetzliche Vorgaben zu Ladestationen gibt es erst in den Kantonen Bern und Basel-Stadt.

Der Kanton Bern als schlechtes Beispiel

Im Kanton Bern bestimmt Artikel 18a des Baugesetzes, dass ein angemessener Teil der Parkplätze für die Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge vorzubereiten oder auszurüsten ist. Diese Bestimmung wird in Artikel 91b1 der Bauverordnung für öffentlich zugängliche Parkplätze konkretisiert:  «Betreiberinnen und Betreiber von verkehrsintensiven Vorhaben sind verpflichtet, Ladestationen für Elektrofahrzeuge zu errichten und zu betreiben.» Gemeint sind damit beispielsweise wie das Shoppyland Schönbühl (erste drei Fotos), das Westside und Wankdorf in Bern oder das Zentrum Oberland in Thun/Heimberg, aber auch die IKEA Lyssach (letzte zwei Fotos) oder das Bluecinema in Muri. Sie alle haben Ladestationen errichtet… die von Menschen im Rollstuhl nicht benutzt werden können. Oder höchstens zufällig, wenn der hinterste Ladeplatz bei der IKEA noch frei ist.

Das schlechte Beispiel des Kantons Bern zeigt, dass der Gesetzgeber nicht nur Vorgaben für die Erstellung von Ladestationen machen darf, sondern dabei auch die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen muss, oder eher: müsste. Zwar gibt der Kanton Bern vor, Behindertenparkplätze und Ladestationen zu erstellen, aber die Schnittmenge – Behindertenparkplätze mit Ladestationen – wurde entweder vergessen oder ignoriert. Beide Fälle sind skandalös und eigentlich unverzeihlich. Denn so müssen wir leider sagen: Im Kanton Bern diskriminiert der Gesetzgeber Menschen mit Behinderungen und verstösst damit gegen ihr verfassungsmässiges Grundrecht.

Ähnlich sieht dies im Kanton Basel-Stadt aus, in dem ansonsten fortschrittliche Vorschriften für das behindertengerechte Bauten bestehen. In der Parkplatzverordnung befinden sich die Bestimmungen sogar direkt hintereinander: § 23 betrifft regelt behindertengerechte Parkplätze und verweis auf die Norm für hindernisfreie Bauten, § 24 die Ausrüstung der Parkplätze mit Ladestationen für Elektrofahrzeuge. Es sind separate Vorgaben, bei denen wiederum die Überschneidung von Behindertenparkplatz und Ladestation vergessen wurde. Im Gegensatz zum Kanton Bern betrifft die Basler Norm nur Neubauten.

Kantone vergessen ihre eigene Vorschrift

Nur diese beiden Kantone haben den Einbau von Ladestationen explizit geregelt. In 17 Kantonen (AI, BE, GE, GL, JU, LU, NW, OW, SH, SO, SZ, TG, TI, UR, VD, ZG, ZH) existiert im Baurecht* aber eine gesetzliche Vorgabe, die scheinbar gerne übersehen oder vergessen wird. Sie trägt meistens diesen Wortlaut:

«Neue öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen müssen für Behinderte und Betagte zugänglich und benützbar sein.»

Natürlich gehören auch Ladestationen für Elektrofahrzeuge zur Kategorie «Bauten und Anlagen», und neu erstellt (hier gilt: seit dem Inkrafttreten dieser Gesetzesbestimmung meist vor vielen Jahren) sind sie auch. Theoretisch müssten damit sämtliche öffentlich zugänglichen Ladestationen für Elektrofahrzeuge in diesen Kantonen hindernis nutzbar sein. Dass sie es in der Praxis aber kaum je sind, belegt, dass diese Vorschrift beim Erteilen von Baubewilligungen einfach vergessen oder übersehen wurden. In all diesen Fällen verstossen die Baubewilligungsbehörden gegen ihre eigenen Vorschriften. Was das in Bezug auf bereits erstellte Ladestationen mit Hindernissen konkret heisst, wird ein Gericht entscheiden müssen. Eigentlich müssen gesetzeswidrige Bauten und Anlagen, selbst wenn sie so bewilligt wurden, in einen rechtmässigen Zustand versetzt werden.

Als Beispiel das Baugesetz des Kantons Luzern.

* Konkrete Bestimmungen im Baurecht

Der Föderalismus in der Schweiz verunmöglicht einheitliche Bestimmungen. Baurechtliche Vorgaben werden auf Gemeindestufe konkret festgelegt, müssen sich aber an die übergeordneten gesetzlichen Vorgaben des Kantons und des Bundes halten, welche gewisse Rahmenbedingungen definieren. Die genannte Gesetzesbestimmung auf Kantonsstufe, wonach neue öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen für Menschen mit Behinderungen zugänglich und benützbar sein müssen, sind wie folgt zu finden:

  • Kanton Appenzell Innerrhoden: Art. 69 Abs. 1 Baugesetz
  • Kanton Bern: Art. 22 Baugesetz
  • Kanton Genf: Art. 109 Loi sur les constructions et les installations diverses
  • Kanton Glarus: Art. 50 Raumentwicklungs- und Baugesetz
  • Kanton Jura: Art. 15 Loi sur les constructions et l’aménagement du territoire
  • Kanton Luzern: § 157 Baugesetz
  • Kanton Nidwalden: Art. 135 Planungs- und Baugesetz
  • Kanton Obwalden: Art. 50 Baugesetz (mit einer Einschränkung bei unverhältnismässigen Mehrkosten)
  • Kanton Schaffhausen: Art. 38 Baugesetz
  • Kanton Solothurn: § 143bis Planungs- und Baugesetz
  • Kanton Schwyz: § 57 Planungs- und Baugesetz
  • Kanton Thurgau: § 84 Planungs- und Baugesetz
  • Kanton Tessin: Art. 30 Legge edilizia cantonale (mit der Einschränkung: soweit wirtschaftlich vertretbar)
  • Kanton Uri: Art. 80 Planungs- und Baugesetz
  • Kanton Waadt: Art. 95 Loi sur l’aménagement du territoire et les constructions
  • Kanton Zug: § 10a Planungs- und Baugesetz
  • Kanton Zürich: § 239 a Planungs- und Baugesetz