Die mögliche Stromabschaltung diskriminiert Menschen im Rollstuhl
«Im kommenden Winter kann es zu einer Energiekrise kommen», prophezeit Benoît Revaz, der Direktor des Bundesamts für Energie BFE. Sollte es dann zu wenig Strom haben, kann der Bundesrat den Betrieb von nicht absolut notwendigen, energieintensiven Geräten verbieten. Die Abschaltung der als Beispiel genannten Rolltreppen und Aufzüge diskriminiert aber Menschen mit Behinderungen – erlaubterweise, wie die Behörden festhalten.
Mal angenommen, der Lift in unserem Haus würde auf den Befehl des Bundesrats hin abgeschaltet. Wir kämen mit dem Rollstuhl nicht mehr von unserer Wohnung im ersten Stock ins Erdgeschoss, um das Haus verlassen zu können, oder ins Untergeschoss zur Einstellhalle mit unserem Auto. Meine Frau im Rollstuhl wäre faktisch in unserer Wohnung gefangen.
Ein Stockwerk könnten wir im Notfall mit der Hilfe von Nachbarinnen und Nachbarn überbrücken, mit einem gewissen Unfallrisiko natürlich. Unmöglich wäre das aber beispielsweise im Bäre-Tower, dem erst vor kurzem fertiggestellten höchsten Wohnturm des Kantons Bern in Ostermundigen mit 32 Stockwerken. Wer darin wohnt und nur die kleinste Gehbehinderung aufweist oder nicht besonders fit ist, hat im Falle einer Abschaltung der Lifte ebenfalls ein Problem.
Sollte sich eine Strommangellage weiter zuspitzen, wäre sogar eine komplette Abschaltung des Stromnetzes während vier Stunden möglich. Für Personen, die auf elektrische medizinische Geräte angewiesen ist, kann dies lebensgefährlich werden. Hier müsste der Bundesrat im Voraus sicherstellen, dass alle über eine mobile Version dieser Geräte verfügen, die mit einem Akku betrieben werden und die Stromabschaltung überbrücken können. Spitäler haben bereits vorgesorgt und besitzen eigene Stromgeneratoren, in der Regel grosse Dieselmotoren, die eine Zeitlang die notwendige Elektrizität generieren.
Die Spitäler könnten die Abschaltung überbrücken, aber was geschieht in einem Notfall? Denn von einer kompletten Abschaltung der Stromversorgung wäre wohl auch das Telefonnetz betroffen. Klar, Smartphones laufen zwar, bis ihre Batterie leer ist, aber wenn die Mobilfunkantennen keinen Strom mehr haben, ist Telefonieren trotzdem nicht mehr möglich. Notrufe könnten damit nicht mehr abgesetzt werden. Zudem würden Heizungen nicht mehr funktionieren, Filterpumpen in Aquarien nicht mehr laufen (für Zierfische kann dies nach zwei Stunden den Tod bedeuten), und vieles mehr.
Ich halte es deshalb eigentlich für unmöglich, in der heutigen Zeit den Strom in ganzen Gebieten abzuschalten. Bei einer Zwangspause für Rolltreppen und Lifte müsste der Bundesrat sicherstellen, dass Menschen mit einer Behinderung davon nicht betroffen sind. Denn sonst würde dies gegen Artikel 8 der Bundesverfassung verstossen. Dieser besagt unter anderem, dass niemand aufgrund einer Behinderung diskriminiert werden darf. Das Bundesgericht hält für diese Rechtsgleichheit fest: «Gleiches ist nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, Ungleiches ist nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln.» Menschen mit einer Gehbehinderung bei der Stromabschaltung gleich zu behandeln, obwohl für sie ein Ausweichen auf die Treppe wie für alle anderen nicht möglich ist, ist damit unzulässig.
Zwar sind Einschränkungen von Grundrechten möglich, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Die wichtigste dieser Voraussetzungen ist eine ausreichende rechtliche Grundlage. Ich bezweifle, dass diese aktuell gegeben ist. Das Bundesgesetz über die Stromversorgung hält zwar in Artikel 9 fest, dass der Bundesrat bei Gefährdung der Versorgung mittel- und langfristige Massnahmen treffen kann, nennt dabei aber nur die Steigerung der Effizienz der Elektrizitätsverwendung, die Beschaffung von Elektrizität und die Verstärkung und den Ausbau von Elektrizitätsnetzen. Das ist in meinen Augen zu ungenau.
Wie stellt der Bundesrat sicher, dass bei zu wenig Strom Menschen mit einer Gehbehinderung nicht diskriminiert werden? Diese Frage stelle ich dem Direktor des Bundesamts für Energie sowie dem Leiter der Kommission OSTRAL, die Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen.
Eine erlaubte Diskriminierung
Der Leiter der Kommission OSTRAL hat die Frage zur weiteren Abklärung an das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) weitergeleitet. Vielen Dank.
– Update 14. August 2022 –
Die juristische Mitarbeiterin des BWL bestätigt die Schlechterstellung von Menschen mit einer Gehbehinderung im Falle einer Netzabschaltung. Da diese Schlechterstellung aber durch sachliche, ernsthafte und triftige Gründe gerechtfertigt sei, läge keine unerlaubte Diskriminierung im rechtlichen Sinn vor. Sie führt aus:
«Bei einer Strommangellage wird der Bundesrat unter Umständen gezwungen sein, als letztes Mittel zu gesteuerten, zyklischen Netzabschaltungen zu greifen. Dabei werden in einem festzulegenden Wechsel regionale Teilnetze für einige Stunden ab- und wieder zugeschaltet. Im Ergebnis steht in diesem Fall jeder Region Strom zur Verfügung, wenn auch zeitlich begrenzt. Rechtsgleichheit wäre zwar gewahrt, jedoch würde die Massnahme mobilitätseingeschränkte Personen stärker belasten als nicht mobilitätseingeschränkte. Am Verteilnetz angeschlossene, stromabhängige Transporthilfen wie Lifte oder Rolltreppen würden nur mehr in der beschränkten Stromphase zur Verfügung stehen. Während mobile Personen solche Situationen buchstäblich umgehen könnten, wären mobilitätseingeschränkte Personen in den Phasen ohne Strom möglicherweise auf Unterstützung angewiesen oder gar stationär blockiert. Es käme damit in der Wirkung der Massnahme zu einer faktischen Ungleichbehandlung der mobilitätseingeschränkten Personen. Ursächlich für diese faktische Ungleichbehandlung sind allem voran die technischen Rahmenbedingungen des Stromnetzes. Sie lassen keine individualisierte Bedarfssteuerung einzelner Anlagen zu.
Im Wissen um die Schärfe der Massnahme würden zur Bewältigung einer Strommangellage zunächst mildere Massnahmen ergriffen (siehe auch FAQ: Energieversorgung (admin.ch) ). Gesteuerte, zyklische Netzabschaltungen würden erst angeordnet, wenn es gar nicht mehr anders geht. Die einzige Alternative zur gesteuerten, zyklischen Netzabschaltung wäre dann die Inkaufnahme eines unkontrollierten Zusammenbruchs des gesamten Stromnetzes mit all seinen Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Individuum. Die Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die volkswirtschaftlichen Schäden und die individuellen Belastungen oder gar Notlagen wären in diesem Fall ungleich höher. Dies gilt es unter allen Umständen zu vermeiden, und hierin liegt auch die Rechtfertigung für die faktische Ungleichbehandlung, die aus der gesteuerten, zyklischen Netzabschaltung resultieren könnte. Dringt diese Argumentation durch, liegt keine Diskriminierung vor und Artikel 8 Absatz 2 der Bundesverfassung wird nicht verletzt.»
Müssen Vorkehrungen getroffen werden?
Offen bleibt dabei für mich die Frage, ob die Behörden diese erlaubte Ungleichbehandlung im Bedarfsfall einfach so wissentlich in Kauf nehmen dürfen, oder ob aufgrund der besonders schwerwiegenden Einschränkung für Menschen mit einer Gehbehinderung allenfalls eine Leistungspflicht besteht, zumal sich die Ungleichbehandlung im Voraus abschätzen lässt. Diese Leistungspflicht könnte mindestens eine besondere Information an Betroffene umfassen. Denkbar wären aber auch das Bereitstellen oder die Bezahlung von Treppenraupen, Assistenzpersonen oder allenfalls die anderweitige Unterbringung zum Beispiel in Hotelzimmern mit ebenerdigem Zugang. Sicherlich müssten die Behörden eine Alternative für Personen gewährleisten, die auf Stromnetz-gebundene medizinische Geräte angewiesen sind. Zumindest in Bezug auf sie gäbe es wohl kaum eine Rechtfertigung dafür, ihren Tod in Kauf zu nehmen. Die juristische Mitarbeiterin des BWL sieht das so:
«Eine Interventionsmassnahme im Rahmen des Landesversorgungsrechts (vgl. dazu Artikel 31 und 32 Landesversorgungsgesetz; LVG; SR 531) wird vom Bundesrat erst angeordnet, wenn die Wirtschaft die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen nicht mehr leisten kann und auch alle anderen staatliche Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Falls sich eine Intervention zum Nutzen der wirtschaftlichen Landesversorgung (darum handelt es sich bei der gesteuerten, zyklischen Netzabschaltung) nicht vermeiden lässt, sind grundsätzlich keine Kompensationszahlungen für damit verbundene Einschränkungen vorgesehen. Das LVG begründet keine individuellen Rechte auf Unterstützung im Krisenfall.
Sollte der Bundesrat eine solche Intervention anordnen müssen, würde er sich in der den Entscheid begleitenden Kommunikation auch an die besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen richten. Die Folgen solcher schwerwiegender Entscheide sind nicht nur Teil der Vorbereitungen, sondern auch der Information nach aussen. Sollten dann keine Alternativen vorhanden sein, soll eine solche Information wenigstens Bewusstsein und Solidarität in der Bevölkerung stärken für die am schwersten Betroffenen unter ihnen.»
Fazit: Blöd, aber ist halt so
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Behörden – sollten Netzabschaltungen nötig sein – Menschen mit Gehbehinderungen zwar nicht schlechterstellen wollen, aber auch nichts dagegen tun, dass genau das dann passiert. Man ist sich der Problematik bewusst, aber versteckt sich hinter Gesetzen, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen.
Einige Kantone haben übrigens Notfalltreffpunkte eingerichtet. An diesen Treffpunkten stehen Zivilschutz-Mitarbeitende mit speziellen Funkgeräten bereit, über die auch bei Stromausfall die Notfalldienste alarmiert werden können. Der nächstgelegene Standort kann unter www.notfalltreffpunkt.ch herausgefunden werden – praktischerweise natürlich vor einer Netzabschaltung. Dorthin kann man also fahren, wenn eingebrochen wird, das Haus in Flammen steht oder man einen Herzinfarkt hat. Vorausgesetzt natürlich, dass man im Rollstuhl die Treppe hinunter kommt.