314 Basler Tramhaltestellen müssen umgebaut werden
„314 Tramhaltestellen müssen umgebaut werden„, lautet der Titel eines Zeitungsartikels in der BaslerZeitung vom 12. März 2011, und sein Untertitel: „Das Gesetz über die Gleichstellung der Behinderten kostet den Kanton einen dreistelligen Millionenbetrag“. Diesem Ton entnehme ich einen gewissen Vorwurf gegenüber der Gehbehinderten.
Noch feindseliger hören sich die ersten beiden Kommentare der Online-Ausgabe an. Roland Greber meint, hier würde man „büchstäblich sinnlos Geld verlochen“ und – wenn ich ihn richtig verstehe – macht er damit die Behinderten für „massive Preisaufschläge“ für ÖV-Pendler in den nächsten Jahren verantwortlich. Auch Kurt Seiler findet, dass „Millionen sinnlos verbuddelt werden, nur damit ein Rollator nicht die 7cm Höhenunterschied bewältigen muss“ und ist der Ansicht, „unsere Gesellschaft hat jedes Augenmass verloren. Was kommt wohl als nächstes?“ Immerhin sind sie die einzigen mit dieser komischen Ansicht. Und werden von weiteren Kommentarschreibern stark kritisiert – zu Recht.
Ich bedaure den Ton dieses Zeitungsartikels und der ersten beiden Kommentarschreiber sehr. Schliesslich sollen auch Leute mit Gehbehinderung die Möglichkeit haben dürfen, das Tram wie Leute ohne Gehbehinderung zu benutzen. Schade, dass die Tramhaltestellen nicht früher schon behindertengerecht gebaut wurden. Diese falsche Planung ist schuld, dass ein Umbau nötig ist, nicht die Behinderten.
Das Behindertengleichstellungsgesetz ist am 1. Januar 2004, also vor über sieben Jahren, in Kraft getreten. Es bezweckt, wie bereits sein vollständiger Titel lautet, die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen. In den Schlussbestimmungen bestimmt es (in Art. 22), dass bestehende Bauten und Anlagen des öffentlichen Verkehrs sowie ihre Fahrzeuge spätestens nach 20 Jahren nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes behinder- tengerecht sein müssen. Kommunikationssysteme und Billettausgabe müssen spätestens zehn Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes behindertengerecht angeboten werden. Diese extrem lange Übergangsfrist lässt den Betreibern die Möglichkeit, den Umbau im Rahmen von sowieso nötig werdenden Sanierungen vorzunehmen. Dass die Basler jetzt schon reklamieren, sie müssen alle ihre 314 Tramhaltestellen bis zum Jahr 2023 umbauen, ist also ziemlich verfrüht. Und wie gesagt: Nur die Folge der falschen Planung. Hätte man von Anfang an die Bedürfnisse von Gehbehinderten in die Planung der Tramhaltestellen mit einbezogen, müssten jetzt nicht so viele Tramhaltestellen umgebaut werden.
Sehr geehrter Herr Schneider,
vermutlich kennen wie uns sogar, sollten Sie der Chef der IVB sein. Zur Klärung: ich bin Grundsätzlich für die Gleichstellung Behinderter und Nichtbehinderter; ich arbeite in der Pflege und beobachte auch täglich Mühseligem, mit dem sich Handykapierte rumschlagen müssen. Nur bin ich der Ansicht, dass Lösungen auch wirklich, zumindest bei solchen Geldbeträgen, optimal sein müssen und ich bin überzeugt, dass man für Gehbehinderte günstigere und bessere Lösungen bei so horrenden Baukosten findet, als überall Haltestellen verändern zu wollen. Und das es für Behinderte auch zumutbar ist, an einer Tramtüre Kontakt zu einem Nichtbehinderten aufzunehmen und 5 Sekunden bei Ein- und Aussteigen Fremdhilfe in Anspruch zu nehmen. Das müssen Elternteile mit Kinderwagen, alte Menschen und und und nämlich auch. Ich denke manchmal, dass in der Schweiz die falschen Forderungen gestellt werden und man mit anderen Mitteln bessere Ergebnisse für die Betroffenen erzielen könnte. Wenn bessere Ergebnisse dann mehr Kosten, bin ich der Letzte, der dagegen wäre. Nur, wenn ich in der Innenstadt den Stossverkehr im öffentlichen Verkehr sehe, so ist das Haltestellenbaukostengeld wirklich nicht Zielführend, zumal wir ja hier von Millionenbeträgen sprechen. Also, ich bin weder gegenüber Ihnen noch Behinderten feindselig eingestellt, halte es aber gefährlich, Kritik als feindselig auszulegen, es schränkt den Blick auf Sachverhalte und Problemlösungen enorm ein und arbeitet letztlich mit etwas, dass der Sache auch nicht dienlich, weil unethisch ist, dem „Behindertenbonus“.
Mit freundlichen Grüssen
Roland Greber
Sehr geehrter Herr Greber
Danke für Ihren Eintrag und nein, wir kennen uns nicht. Ich bin nur mein eigener Chef. Und ich sehe das mit dem Umbau der Tramhaltestellen anders. Das Behindertengleichstellungsgesetz gibt es schon 2002. Und auch vorher wäre es freiwillig möglich und auch sehr leicht gewesen, Tramhaltestellen ohne Mehrkosten barrierefrei zu bauen oder umzubauen. Wenn Basel damit bis zur letzten Minute wartet, fallen tatsächlich alle Kosten gleichzeitig an. Schuld daran sind aber nicht etwa die Behinderten, sondern die Fehlplanung der Verantwortlichen. Seit der Einführung von Niederflurwagen in den Trams brauchen übrigens Leute mit Kinderwagen oder ältere Menschen keine Hilfe mehr beim Einsteigen. Hier hat sich auch niemand an den Kosten für die Neubeschaffung dieser Wagen gestört. Sie wurden im Rahmen des normalen Erneuerung des Fuhrparks angeschafft. Genauso normal hätte man über die Jahre hinweg Tramhaltestellen umbauen können. Diese Niederflurwagen wurden sicher aufgrund von vielen Reklamationen von Eltern und Älteren gekauft. Personen mit einer Gehbehinderung haben eine weniger starke Stimme und werden deshalb nur zu gerne überhört. Deshalb war und ist es leider nötig, entsprechende Gesetze zu schaffen, damit auch ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden. Diese Gesetze gehen sowieso noch immer viel zu wenig weit. Nach englischem Vorbild müssten alle bestehenden Restaurants verpflichtet werden, einen barrierefreien Zugang und eine Behindertentoilette zu schaffen und alle mehrstöckigen Läden zum Einbau eines Lifts. Ich hoffe, dass ich das noch erleben darf. Leider ist die Schweiz und die Mentalität der Schweizer in Behindertenfragen sehr rückständig. Wer einer gehbehinderten Person die Türe vor der Nase zufallen lässt (was wir viel zu oft erleben), wird ihr auch im ÖV nicht helfen wollen. Die Beanspruchung des Tramführers lenkt die Aufmerksamkeit übermässig auf die gehbehinderte Person und alle Passagiere denken sich, dass sie wegen ihm jetzt später an ihr Ziel kommen oder den Zug verpassen. Die Gleichstellung ist erst erreicht, wenn sich Menschen mit einer Gehbehinderung im Alltag gleich bewegen können wie Menschen ohne Gehbehinderung (pun intended).