Im Rollstuhl ans Gurtenfestival
Das viertägige Gurtenfestival lockt mit nationalen und internationalen Bands jedes Jahr zehntausende von Musikliebhabern aus der ganzen Schweiz auf den Gurten, den Hausberg der Stadt Bern. Zum ersten Mal waren nun auch wir mit dabei, um am Donnerstag Noah and the Whale, Brandon Flowers (Frontmann der Killers) und die Eels zu sehen.
Ob das auch im Rollstuhl möglich ist? Darüber waren wir schon ein bisschen skeptisch. Trotz der sehr netten und hilfsbereiten Auskunft der Veranstalterfirma änderte sich diese Unsicherheit nicht.
Problematisch ist schon die Anfahrt mit dem Auto, denn die Veranstalter haben es trotz langjähriger Erfahrung versäumt, einen Parkplatz für Gehbehinderte vorzusehen. Das Parkhaus der Gurtenbahn – dort gäbe es zwei Behindertenparkplätze – kann ebenfalls nicht benutzt werden. Vermutlich wird es für Helfer-Fahrzeuge oder die Motorräder der Broncos (Sicherheit) freigehalten.
Zwar wäre es möglich, bis vor den Ausgang der Gurtenbahn zu fahren, um auszuladen. Danach muss das Auto aber auf dem vorgesehenen Gurtenfestival-Parkplatz parkiert werden. Diese vom Regen aufgeweichte Wiese ist mehrere Kilometer entfernt und nur mit dem Shuttle-Bus erreichbar. Das geht gar nicht. Wie sich ein Rollstuhl-Selbstfahrer ohne Begleitung zuerst selbst ausladen und danach das Auto parkieren soll, bleibt mir ein Rätsel.
Der Veranstalter schlägt vor, das Auto am Bahnhof oder sonstwo zu parkieren und von dort mit einem Behindertenfahrdienst ans Festival zu kommen. Das kommt für uns nicht in Frage. Erstens sind Berner Behindertentaxis sehr teuer, wenn man nicht Mitglied der Stiftung Behindertentransport Kanton Bern ist, was wir und alle Besucher aus anderen Kantonen nicht sind, und zweitens müssten wir die Rückfahrt vor Mitternacht bestellen (danach sind die Telefonzentralen nicht mehr besetzt). Um diese Zeit wissen wir aber noch gar nicht, wann wir wieder nach Hause gehen wollen.
Wir hoffen also auf einen Blaue Zone-Parkplatz in der Nähe im Quartier, und finden tatsächlich einen. Dank der Behindertenparkkarte dürfen wir hier länger parkieren als nur eineinhalb Stunden. Wegen der Hanglage des Quartiers ist die Blaue Zone für Selbstfahrer ohne Begleitung aber leider keine Alternative. Ich bin schon gut ausser Atem vom Schieben, als wir oben auf der Hauptstrasse ankommen.
Doch das war erst der Anfang. Auch die Strasse zur Gurtenbahn hoch ist lang und steil. Eine Verschnaufpause gibt’s beim Bändel-Umtausch. Dank einem aufmerksamen Helfer müssen wir dafür nicht anstehen. Dann dürfen wir neben der Warteschlange durch direkt bis zum Ausgang der Gurtenbahn gehen und über die Rollstuhlrampe einsteigen. Ich bin total durchgeschwitzt, als wir endlich dort angekommen sind.
Eine Bahnfahrt später stehen wir schon vor dem Haupteingang zum Festival. Kate Nash singt gerade, als wir die Rock&Roll-Tribüne für Rollstuhlfahrer suchen. Wir folgen dem Weg aus sechseckigen Plastik-Platten, der rund um das Festivalgelände führt. Dabei müssen wir aufpassen, nicht in den Löchern und Spalten steckenzubleiben, die sich wegen dem unebenen Gelände immer wieder auftun. Dass sie mit Sägespänen gefüllt sind, macht die Sache nur gefährlicher. Schon jetzt liegen viele der Späne rund um die Löcher und Spalten auf den Platten und machen sie rutschig. Würde es regnen, hätte ich sowieso keine Chance mehr auf genügend Bodenhaftung, um den Rollstuhl den steilen Weg zur Tribüne hinauf zu schieben.
Ein weiteres Hindernis stellt der erhöhte Kabelkanal dar, direkt vor dem Beginn der Steigung. Schon im flachen Gelände sind diese schwierig zu meistern, ohne irgendwo unsanft steckenzubleiben.
Dann haben wir die Rock & Roll-Tribüne erreicht. Sie ist zwar weit weg von der Bühne, direkt neben der Migros- und Swisscom-Lounge, aber sie bietet einen tollen Ausblick… auf die Hauptbühne. Leider gibt es bei der Zelt- und Waldbühne nichts dergleichen. Und genau dort spielt die erste Band, die uns interessiert. Und leider fehlt die versprochene Sitzgelegenheit für Begleitpersonen. So muss ich neben dem Rollstuhl knien, um auf gleicher Höhe zu sein. Davon habe ich jetzt noch Rückenschmerzen – man wird halt langsam alt.
Der Ausflug aufs WC führt uns wieder den ganzen Weg zurück zum Eingang. Immerhin gibt es ein richtiges Behinderten-WC-Häuschen, das sich nur mit einem Schlüssel (beim Sanitätszelt direkt nebenan) öffnen lässt. Das ist zwar eine tolle Sache. Aber es ist das einzige Rollstuhl-WC auf dem Gelände und deshalb immer sehr weit weg.
Der Weg zur Zeltbühne führt rund um das Festival-Gelände herum, bergauf und bergab an diversen Ständen und Lounges vorbei. Die Leute sind friedlich und fröhlich und gehen bereitwillig aus dem Weg. Eine grosse Hilfe sind uns dabei auch unsere Freunde, die vorneweg gehen und einen Weg bahnen. Merci, Alessandro! Das Pièce de resistance stellt dann der abermals steile Weg neben der Zeltbühne dar. Hier wurden die Plastikplatten durch schwere Betonplatten ersetzt, die miteinander verkettet sind. Die festivalerprobte Freundin weiss, dass die Plastikplatten hier bei Regen jeweils genommen wurden, um darauf den Hang hinunter zu schlitteln. Das ist mit den Betonplatten definitiv nicht möglich.
Endlich sind wir oben angelangt. Und sind erstaunt über das riesige Zelt und den Hang, dank dem man von überall her gut auf die Bühne sieht. Das heisst: Wenn man nicht im Rollstuhl sitzt oder weniger gross ist wie alle andern. Sonst sieht man leider nur viele Leute von hinten. Auch hier wäre eine Rollstuhltribüne eine tolle Sache gewesen.
Während die andern auf den Auftritt warten, hole ich rasch etwas zu essen. Auch das wäre für einen Selbstfahrer nicht ganz einfach. Denn wegen der Hanglage und zum Schutz vor dem nassen Boden sind die meisten Essensstände erhöht und nur über ein paar Stufen zu erreichen. Dafür begeistert das Angebot. Burger, asiatisch, indisch und vieles mehr wird angeboten. Ich entscheide mich für eine Fajita mit Poulet, die in der plastifizierten Halterung kommt (hält verlässlich alle Flüssigkeit davor ab, auf die Kleider zu tropfen) und sehr lecker ist.
Nach Noah and the Whale geht’s zurück zur Hauptbühne. Hier tritt bald Brandon Flowers auf. Wir geniessen die Festivalstimmung und freuen uns, dass unsere Freunde mit auf die Rollstuhltribüne kommen dürfen, die ausser uns leer ist. So lässt sich das Konzert wirklich geniessen.
Draussen wird es immer dunkler. Nach Brandon Flowers machen wir uns ein weiteres Mal auf den Weg zur Zeltbühne, um die Eels zu hören. Diesen Auftritt können wir aber nicht geniessen. Ständig stolpern Leute in der Dunkelheit und wegen dem zunehmenden Alkoholisierungsgrad über die Fussstützen oder bleiben an den Handgriffen des Rollstuhls hängen. Auch unsere knapp 1.60 Meter grosse Freundin wird mehrmals fast überrannt. Hoffentlich sind keine Kinder mehr hier. Mühsam. Und auch jetzt beschränkt sich der Ausblick auf Rücken. Ich mache zwischendurch Fotos und kurze Filmchen, die ich auf dem iPhone-Bildschirm meiner Frau im Rollstuhl zeige.
Zurück auf der Rollstuhltribüne genehmigen wir uns eine feine Crèpe mit Nutella, bevor wir uns um halb eins auf den Rückweg zur Gurtenbahn und zum Auto machen.
Fazit: Das Gurtenfestival war eine tolle Erfahrung und wir gehen sicher wieder hin, wenn uns die Bands gefallen. Die Besucher waren alle gut drauf und haben Rücksicht genommen, und die Helfer waren sehr hilfsbereit. Trotz der guten Musik und der angenehmen Stimmung ist der Gurtenfestival-Besuch im Rollstuhl aber eher nicht empfehlenswert.