Berner ÖV-Haltestellen: Wenn die Stimmbevölkerung über Barrierefreiheit entscheidet

Eigentlich müssten alle Schweizer ÖV-Haltestellen von Gesetzes wegen seit Anfang 2024 barrierefrei sein. Das ist an zu vielen Orten trotzdem nicht der Fall, auch nicht in der Hauptstadt. In Bern darf die Stimmbevölkerung am 3. März 2024 entscheiden – also erst nach Ablauf der 20-jährigen Frist –, ob 94 Haltestellen barrierefrei umgebaut werden dürfen. Wir haben nachgefragt, was eine Ablehnung an der Urne bedeuten würde.

Update: Die Abstimmung wurde angenommen mit 87.34%. Danke!

Die Haltestelle im Bild befindet sich knapp nicht mehr auf Stadtberner Boden. Aber auch sie ist weiterhin nicht barrierefrei umgebaut. Foto: Rollstuhlblog.ch

In der ganzen Schweiz müssen ÖV-Haltestellen, also Haltestellen für Busse, Trams, Züge und Schiffe, hindernisfrei sein. Der hindernisfreie Umbau der ÖV-Haltestellen erfolgt nicht etwa freiwillig. Er wird durch das Behindertengleichstellungsgesetz vorgeschrieben. Dieses trat am 1. Januar 2004 in Kraft und hat gesetzlich festgelegt, dass nach einer Übergangsfrist von 20 Jahren alle ÖV-Haltestellen «behindertengerecht» (sprich: hindernisfrei benutzbar) sein müssen. Und nur um das zu wiederholen: alle. Die Übergangsfrist ist Anfang Januar 2024 abgelaufen.

«Bestehende Bauten und Anlagen sowie Fahrzeuge für den öffentlichen Verkehr müssen spätestens nach 20 Jahren nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes behindertengerecht sein.»

Art. 22 Behindertengleichstellungsgesetz

Eine traurige Bilanz zieht die Stadt Bern. Innerhalb der Frist wurden nur gerade 89 der 408 ÖV-Haltestellen umgebaut, also nicht einmal 22%. Jetzt kehrt sie die gesetzliche Pflicht ins Absurde: Am 3. März 2024 erfolgt eine Abstimmung zum barrierefreien Umbau von 94 Haltestellen. Sie überlässt es also faktisch der Stimmbevölkerung, ob sie die gesetzlichen Vorschriften (mit Verspätung, aber immerhin) erfüllen oder ob sie weiterhin bewusst gegen das Gesetz verstossen soll.

Laut den Abstimmungsunterlagen sieht die Situation in der Stadt Bern wie folgt aus:

  • 89 ÖV-Haltestellen sind bereits umgebaut und hindernisfrei zugänglich (2 mehr als vor 3 Jahren)
  • 146 ÖV-Haltestellen werden im Rahmen von ordentlichen Sanierungsprojekten nach Ablauf der Frist umgebaut
  • 94 ÖV-Haltestellen werden jetzt der Abstimmung unterstellt
  • 79 ÖV-Haltestellen werden vorerst gar nicht umgebaut, weil sich «nicht in der Nähe von Alters- und Behinderteninstitutionen befinden» und deshalb aus Sicht der Behörden kein Bedarf bestehe.

Um das erneut zu wiederholen: alle, und spätestens bis Anfang Januar 2024.

Die Stadt Bern antwortet ausweichend

Wir haben nachgefragt und von Christian Kissling, Fachspezialist Recht bei der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün, Antworten erhalten.

Frage Rollstuhlblog: Aus welchem Grund muss die Stimmbevölkerung über diesen Rahmenkredit entscheiden? Gilt das für alle Rahmenkredite? Ab welchem Betrag ist eine Abstimmung notwendig? Und vor allem: Hätte die hindernisfreie Umgestaltung nicht auch so geplant werden können, dass sie ohne Abstimmung hätte durchgeführt werden können?

Antwort Christian Kissling: In der Stadt Bern unterstehen Ausgaben über 7 Millionen Franken dem obligatorischen Finanzreferendum (Volksabstimmung). Die geplanten Investitionen in der Höhe von 67,5 Millionen Franken machen also eine Volksabstimmung zwingend nötig. Das ist – wie so vieles – letztlich eine juristische Frage, konkret eine finanzrechtliche: Trotz der Verpflichtung durch das BehiG ist es nämlich nicht möglich, diese Investitionen als sogenannte gebundene Ausgabe zu betrachten, die der Gemeinderat in eigener Kompetenz ungeachtet ihrer Höhe tätigen könnte. Die Vorschriften für gebundene Ausgaben sind vielmehr sehr streng. Eine gebundene Ausgabe liegt nur dann vor, wenn in Bezug auf ihre Höhe, den Zeitpunkt ihrer Vornahme oder andere Modalitätenkein Spielraum besteht. Das ist bei diesem Geschäft sicher nicht der Fall. Die Haltestellen könnten auch einzeln, im Rahmen ordentlicher Projekte, BehiG-gerecht umgestaltet werden.

Frage Rollstuhlblog: Welchen Plan hat die Stadt Bern für den Fall, dass der Rahmenkredit abgelehnt wird? Aufgrund der hohen Kosten ist das durchaus möglich. Das Behindertengleichstellungsgesetz verlangt die Umgestaltung ja trotzdem. Wird die Stadt in diesem Fall auf die Umgestaltung verzichten und bewusst gegen das Gesetz verstossen? Oder in ein paar Jahren eine weitere Abstimmung durchführen, obwohl die gesetzliche Frist bereits verpasst wurde?

Antwort Christian Kissling: Eine Ablehnung würde die Stadt Bern nicht von der Pflicht entbinden, die öV-Haltestellen behindertengerecht umzubauen. Die Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes müssten dann auf andere Weise umgesetzt werden, etwa mittels Einzelprojekten, kleineren Paketen oder – falls das rechtlich überhaupt zulässig wäre – mittels Teilerhöhungen der Kanten bei den einzelnen Haltestellen. Die Umsetzung würde sich aber um Jahre verzögern.

Frage Rollstuhlblog: Wann folgt die Umgestaltung der restlichen ÖV-Haltestellen?

Antwort Christian Kissling: Die restlichen 79 von 408 Haltekanten, welche keine oder nur untergeordnete Umsteigebeziehungen bedienen, keine Nähe zu Alters- und Behinderteninstitutionen aufweisen und nur tief frequentiert sind, sollen dann umgebaut werden, wenn sie in den Perimeter eines benachbarten Sanierungs- oder Neugestaltungsprojekts fallen oder wenn für sie ein zweiter Rahmenkredit bewilligt werden sollte.

Wird die Berner Stimmbevölkerung nun Komplize einer widerrechtlichen Handlung?

Diese Antworten vermögen nicht zu überzeugen. Die Abstimmungsbotschaft hält ja gerade fest, dass für die Umgestaltung der ÖV-Haltestellen separate Einzelprojekte nötig sind. Sie besagen ausserdem, dass pro Jahr nur etwa zehn Haltestellen hindernisfrei umgestaltet werden können (womit die Umgestaltung also extrem lange dauern wird). Die Stadtverwaltung hätte das Grossprojekt also durchaus auf zehn Jahresprojekte aufteilen können, von denen keines die Ausgabenhürde von 7 Millionen Franken überstiegen hätte. Eine Abstimmung hätte sich damit erübrigt.

«Schätzungsweise können von den 94 Haltekanten jeweils etwa zehn pro Jahr hindernisfrei umgestaltet werden. Somit betragen die jährlichen Kosten voraussichtlich rund 6 bis 7 Millionen Franken.»

Auszug aus der Abstimmungsbotschaft

Obwohl Herr Kissling betont, dass die Stadt Bern auch bei einer Ablehnung weiterhin verpflichtet ist, die ÖV-Haltestellen barrierefrei umzubauen, überzeugen seine Antworten nicht. Denn, wie er sagt: Die Umsetzung würde sich um Jahre verzögern. Umso tragischer erscheint es in diesem Zusammenhang, dass die Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Behindertengleichstellungsgesetzes keine Strafnorm mit eingeplant haben. Sie gingen damals etwas naiv davon aus, es würde ausreichen, den gewünschten Zustand und die Frist im Gesetz zu verankern, damit das dann auch geschieht.

Natürlich sollen nicht die Baudirektoren und ihre Mitarbeitenden ins Gefängnis gesteckt werden, und auch bei der jetzigen Abstimmung macht sich die Bevölkerung bei einer Ablehnung nicht als Komplizen strafbar. Trotzdem hätte es sicher geholfen, wenn die Städte und Gemeinden eine Busse abhängig von ihrer Bevölkerungszahl für jeden Tag hätten bezahlen müssen, mit dem sie die Frist überschreiten. Das erhaltene Geld könnte Behindertenorganisationen im ganzen Land zugutekommen. Oder Städte und Gemeinden sollten Menschen mit Behinderungen eine kostenlose Benutzung des öffentlichen Verkehrs erlauben, solange nicht alle Haltestellen auf ihrem Gemeindegebiet hindernisfrei umgebaut sind. Dass nichts davon geschieht, überrascht nicht, enttäuscht aber trotzdem.

Die Haltestelle Zytglogge verstösst gegen das Gesetz. Sie ist aber nicht deswegen abgesperrt, sondern weil hier ein Tram entgleist ist. Foto: Rollstuhlblog.ch

 

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