Hindernisfreie Bauten: Die Norm SIA 500 wird überarbeitet
Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein gibt in seinen SIA-Normen rechtlich verbindliche Mindeststandards fürs Bauen vor. Die Norm SIA 500 regelt alle wichtigen Belange für hindernisfreie Bauten. Nun wird die aktuelle Version aus dem Jahr 2009 aktualisiert. Im Rahmen der Vernehmlassung haben auch wir Kommentare zum Entwurf eingereicht.
Am 1. Juli 2025 hat der Verein SIA seinen Entwurf für die neue Norm SIA 500 in die Vernehmlassung geschickt. Dabei erhalten Behörden, Institutionen und Interessierte Gelegenheit, sich zur geplanten neuen Regelung zu äussern und Verbesserungsvorschläge einzureichen. Die Vernehmlassung gibt der Bevölkerung auch einen sonst verwehrten Einblick in die Norm. Denn im Gegensatz zu Gesetzen des Bundes, der Kantone und der Gemeinden sind die SIA-Normen «geheim» bzw. der Einblick kostenpflichtig.
Im neuen Entwurf hat der Verein SIA einige bisherige Regelungen unverändert übernommen und andere ergänzt. Neu aufgenommen, und das ist besonders wichtig, werden Vorgaben zu «rollstuhlgerechten Ladeinfrastrukturen» für Elektrofahrzeuge.
Der Verein SIA hat unzählige Bundesämter sowie Architekten- und Branchenverbände zur Vernehmlassung eingeladen hat, die mehr oder weniger (oder auch gar nichts) mit dem Thema zu tun haben. Zu den Adressaten gehörten aber auch ein Dutzend Behindertenorganisationen. Aber auch andere dürfen ihre Kommentare einsenden, was ich getan habe. Mir war es wichtig, auch die Sichtweise von selbst Betroffenen beizusteuern. Denn bei der Benutzung der Bauten, die in der Norm SIA 500 geregelt werden, fällt uns immer wieder auf, was bei der Umsetzung falsch verstanden oder ganz einfach ignoriert wurde.
Diese Themen sind mir besonders aufgefallen und habe ich kommentiert:
Rollstuhlgerechte öffentliche Toiletten
Hier soll sich gegenüber den aktuell geltenden Vorgaben nur wenig ändern. Immerhin wird in Bezug auf die minimale Raumfläche ergänzt, dass bei fest montierten Apparaten, Armaturen, Hilfseinrichtungen und Zubehör wie beispielsweise Wickeltische die Fläche entsprechen vergrössert werden muss. Ich empfehle, dass dies nicht nur für feste Objekte gelten soll, sondern auch für mobile Abfalleimer und dergleichen gelten soll, wenn diese zum festen Inventar des Raums gehören. Denn allzu oft stellen wir in rollstuhlgerechten Toiletten fest, dass die Bewegungsfläche neben der Toilette genutzt wird, um hier alle möglichen Dinge hinzustellen – teilweise sogar Putzgeräte. Das soll noch klarer untersagt werden.
Zu den von uns vorgeschlagenen Ergänzungen gehört auch, dass der Klappgriff (E) in hochgeklappter Position arretierbar sein muss. Wir haben schon mehrmals Klappgriffe angetroffen, die nach dem Hochklappen einfach wieder heruntergefallen sind. Das ist nicht nur eine Verletzungsgefahr, sondern verhindert je nach Transfertechnik das Umsitzen.
Noch viel wichtiger erscheint uns, dass bei langen Klosettbecken klar ist, dass die jetzt leicht überlesbare Rückenlehne unbedingt erforderlich ist. Denn diese fehlt auf vielen rollstuhlgerechten Toiletten. Für uns und wohl auch für viele andere Menschen mit Behinderung macht das die Benutzung der Toilette – schräg nach hinten liegend – fast unmöglich. Der Einbau der Rückenlehne soll deshalb expliziter genannt und in der Skizze klarer dargestellt gemacht werden.
Wir wären auch froh um einen Mindestabstand vom WC zum Handwaschbecken. Wer beim Besuch der Toilette auf eine Hilfe angewiesen ist, hat hier zu zweit kaum je Platz – und schon gar nicht, wenn ein eckiges statt rundes Lavabo installiert wurde.
Und beim Eurokey soll explizit erwähnt werden, dass ein Schloss mit zwei Schliesszylindern zwingend nötig ist. Gerade vor ein paar Wochen hat eine andere Person mit Eurokey die Toilette von aussen aufgeschlossen und die Türe geöffnet, als wir sie benutzt haben. Das darf einfach nicht mehr vorkommen.
Und wir sind nicht mit der vorgesehenen Regelung einverstanden, dass die einzige rollstuhlgerechte Toilette im Damen-WC platziert werden darf. Denn bei den SIA-Normen geht es um Neubauten. Hier soll die rollstuhlgerechte Toilette gefälligst separat von geschlechtergetrennten Toiletten gebaut werden. Ein Mann im Rollstuhl soll nicht durch die Damentoilette rollen müssen, und ebenso nicht eine Frau mit männlicher Begleitperson, wenn sie beim Besuch der Toilette auf Hilfe angewiesen ist.
Rollstuhlgerechte öffentliche Duschen und Umkleideräume
Bei Duschanlagen und Umkleideräumen soll die bestehende Vorgabe übernommen werden, dass sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen mindestens je eine Dusche bzw. Umkleidekabine rollstuhlgerecht gestaltet werden soll. Für uns ist das nicht mehr zeitgemäss und ein noch grösseres Problem als bei den Toiletten. Wie soll ich als Mann meine Frau im Rollstuhl in eine öffentliche Dusche oder einen Umkleideraum begleiten, die nur im Männer- oder Frauenbereich besteht? Da haben die Damen und Herren Ingenieure und Architekten wohl kein bisschen an die Benutzung im echten Leben gedacht. Hier braucht es für Menschen mit Behinderungen unbedingt einen separate Dusch- bzw. Umkleideraum.
Rollstuhlgerechte öffentliche Ladeinfrastrukturen
Dieses sehr wichtige Thema wird neu in die Norm SIA 500 aufgenommen und scheint sehr gut gelöst:
- An Schnellladestationen sollen entweder ALLE Ladeplätze rollstuhlgerecht sein, ODER sonst eine Mindestzahl, die dann für die ausschliessliche Benutzung durch Menschen mit Behinderung gekennzeichnet ist ODER es soll «betrieblich sichergestellt» werden, dass der rollstuhlgerechte Ladeplatz als letzter von einer Person ohne Bedarf besetzt wird, wenn die Anlage voll belegt ist. Schade: Der dritte Fall macht alle Bemühungen zunichte, weil er dem Missbrauch Tür und Tor öffnet. Die Betreiber werden auf kleine Schildchen verweisen, die von allen ignoriert werden. Ausserdem: Wenn sich eine Warteschlange bildet, wird wohl kaum jemand darauf achten (oder überhaupt wissen!), ob auch ein Mensch im Rollstuhl wartet, und den nächsten rollstuhlgerechten Ladeplatz, der frei wird, dann ihm oder ihr überlassen. Ich fordere deshalb, dass genau das «betrieblich sichergestellt» werden soll.
- Bei langsamen Ladestationen gilt: Wenn es bei einer Parkierungsanlage neben Parkplätzen auch Ladeplätze gibt, müssen alle Rollstuhlparkplätze ebenfalls mit Ladestationen ausgestattet werden. DAS ist mal eine gute Regelung!
Dass technische Vorgaben zur Einbauhöhe nur bei Langsamladestationen und der Verbot von Aufprallschutz, Sockel oder Pfoten, die im Weg sind, nur bei Schnellladestationen genannt werden, macht für mich keinen Sinn. Beides soll bei beiden Arten von Ladestationen gelten.
Einen wichtigen Vorschlag mache ich noch für die langsamen Ladestationen: Nicht selten wurden Parkhäuser und Parkplätze vor vielen Jahren oder sogar Jahrzehnten erstellt – zu einer Zeit, als noch gar keine oder weniger Rollstuhlparkplätze geschaffen werden mussten. Die Regelung zu den langsamen Ladestationen nützt schliesslich nichts, wenn es überhaput keine Rollstuhlparkplätze gibt. Ich empfehle deshalb, dass in solchen Fällen zusätzliche Rollstuhlparkplätze geschaffen werden müssen, um der heute vorgeschriebenen Anzahl zu entsprechen.
Rollstuhlgerechte öffentliche Parkplätze
Der bisherige Richtwert, der hier unverändert übernommen werden soll, erscheint nicht mehr zeitgemäss. Einerseits ist in der Zwischenzeit der Mobilitätsbedarf der Bevölkerung und von Menschen mit Behinderung gestiegen, und andererseits fallen gerade in grösseren Städten immer mehr anderweitige öffentliche Parkiermöglichkeiten entlang von Strassen und auf Plätzen weg. Dabei verschwinden auch immer mehr Abstellmöglichkeiten, die mit der Parkkarte für Menschen mit Behinderungen im Sinne einer Parkierungserleichterung genutzt werden dürfen. Aus diesen Gründen wäre es wichtig, für zusätzliche Parkiermöglichkeiten für Inhaberinnen und Inhaber der genannten Parkkarte zu sorgen, um ihren Parkplatzbedarf sicherzustellen. Dass bei 1’000 Parkplätzen nur 8 Rollstuhlparkplätze und bei 2’000 Parkplätzen nur 12 Rollstuhlparkplätze geschaffen werden sollen, ist meines Erachtens ungenügend – gerade auch mit dem Blick ins Ausland, wo in Parkieranlagen oft ganze Parkplatzreihen ausschliesslich für Menschen mit Behinderung reserviert sind.
Meine Kommentare im Volltext sind hier einsehbar: Kommentar_prSIA500_Rollstuhlblog.pdf.
Wie geht es nun weiter?
Die Vernehmlassung dauerte bis am 3. Oktober 2025. Der Verein SIA sichtet nun die erhaltenen Stellungnahmen und bespricht allfällige Anpassungen des Entwurfs. Die definitive Version der neuen Norm SIA 500 kann für das Jahr 2026 erwartet werden. Sie wird wiederum nicht öffentlich bzw. nur gegen Bezahlung einsehbar sein.