Überall entstehen Ladestationen für Elektrofahrzeuge, die für Menschen im Rollstuhl nicht nutzbar sind
Zukünftig sollen alle Autos elektrisch fahren. Dafür entstehen überall in der Schweiz öffentliche Ladestationen. Doch die meisten davon können von Menschen im Rollstuhl nicht benutzt werden. Denn die Behörden haben vergessen, verbindliche Vorgaben für hindernisfreie Ladestationen zu schaffen. Das stellt eine Diskriminierung dar. Wir vom Rollstuhlblog.ch decken auf, fragen nach und prangern an.
Vorbemerkung
Dieser Beitrag ist speziell. In ihm steckt enorm viel Vorbereitungszeit. Und wir haben das Gefühl: Das ist einer unser wichtigsten Beiträge bzw. das wichtigste Thema, auf das wir bei unserem bisherigen Einsatz zugunsten von Menschen mit Behinderungen gestossen sind. Deshalb haben wir beschlossen, dem Thema Ladestationen einen ganzen Bereich im Rollstuhlblog.ch zu widmen. In diesem Bereich speichern wir weitere Informationen zu den einzelnen Aspekten, die aus Platzgründen in diesem Beitrag nur angeschnitten werden können. Wir wünschen eine gute Lektüre.
Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ignorieren hat Tradition
20 Jahre haben nicht gereicht, um alle ÖV-Haltestellen in der Schweiz hindernisfrei umzugestalten. Daraus haben die Behörden aber leider nichts gelernt. Wir steuern gerade auf das nächste grosse Infrastruktur-Problem für Menschen im Rollstuhl zu: Ladestationen für Elektrofahrzeuge. Trotz einiger Interventionsversuche von Rollstuhlblog.ch werden diese weiterhin meist so erstellt, dass sie im Rollstuhl nicht nutzbar sind. Dabei ist klar: Genauso wie die übrige Bevölkerung sollen und werden auch Menschen mit Behinderungen zukünftig auf die Elektromobilität statt Verbrennungsmotor setzen. Aus diesem Grund müssen Ladestationen auch für sie benützbar sein. → Weitere Informationen zu diesem Aspekt
Hindernisse werden absichtlich eingebaut
Autofahrerinnen und Autofahrer, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, treffen an Ladestationen auf drei Arten von Hindernissen:
- Der Ladeplatz ist zu klein: Die meisten Ladeplätze sind gleich gross wie gewöhnliche Parkplätze. Auf diesen stehen die Elektroautos fast Türe an Türe. Ein Umsteigen in den Rollstuhl ist so nicht möglich.
- Die Ladesäule ist nicht oder nur schwer erreichbar: Schwellen, Abstandhalter und Absätze sollen verhindern, dass Autos die Ladesäule touchieren. Sie halten aber auch Menschen im Rollstuhl ab.
- Das Ladekabel und/oder die Bedienelemente sind zu hoch angebracht: An der Raststätte Würenlos muss die Kreditkarte zum Bezahlen in 1.90 Meter Höhe hingehalten werden. Auch in weniger extremen Fällen sind die Bedienelemente zu hoch angebracht für Menschen im Rollstuhl.
Nicht selten haben die Ersteller der Ladestationen auch zwei oder sogar alle drei Hindernisse kombiniert. → Weitere Informationen zu diesem Aspekt
Menschen mit Behinderungen werden diskriminiert
Eigentlich verpflichten die Bundesverfassung und das Behindertengleichstellungsgesetz die Behörden, dafür zu sorgen, dass Menschen mit Behinderungen dieselben Möglichkeiten haben wie die übrige Bevölkerung. Dies gilt natürlich auch in Bezug auf die Benützung von Ladestationen.
In 17 Kantonen (AI, BE, GE, GL, JU, LU, NW, OW, SH, SO, SZ, TG, TI, UR, VD, ZG, ZH) existiert im Baurecht sogar eine gesetzliche Vorgabe. Diese bestimmt, dass «neue öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen auch für Behinderte und Betagte zugänglich und benützbar» sein müssen. Ladestationen zählen als Bauten und Anlagen, und neu (seit dem Inkrafttreten der Gesetzesbestimmung) sind sie auch. Daher müssten Ladestationen in diesen Kantonen von Gesetzes wegen hindernisfrei zugänglich und benützbar sein.
Einen Schritt weiter geht der Kanton Bern: Er verpflichtet die «Betreiberinnen und Betreiber von verkehrsintensiven Vorhaben (…), Ladestationen für Elektrofahrzeuge zu errichten und zu betreiben.» Gemeint sind Einkaufszentren wie das Shoppyland Schönbühl oder Publikumsmagnete wie die IKEA Lyssach (Foto). Sie alle haben innerhalb der fünfjährigen Übergangsfrist Ladestationen errichtet, und dabei keinen einzigen Ladeplatz so konzipiert, dass er im Rollstuhl benützbar ist. Ursache ist die lückenhafte Gesetzesbestimmung.
Der Kanton Basel-Stadt führt das Problem exemplarisch für die Schweiz vor: In seiner Parkplatzverordnung verlangt er bei neuen Bauvorhaben direkt hintereinander die Schaffung von Behindertenparkplätzen (§ 23) und die Ausrüstung von Parkplätzen mit Ladestationen (§ 24). Er vergisst dabei jedoch die Schnittmenge bzw. die Kombination von Behindertenparkplatz und Ladestation.
In all diesen Fällen werden Menschen mit Behinderungen von den Behörden diskriminiert; in den aufgezählten Kantonen von den nachlässigen Baubewilligungsbehörden und in den Kantonen Bern und Basel-Stadt vom nachlässigen Gesetzgeber. Sie müssten dafür sorgen, dass die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden und Ladestationen auch von ihnen benutzt werden können. → Weitere Informationen zu diesem Aspekt
Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten für hindernisfreie Ladeplätze
Es gibt durchaus wenige gute Beispiele von (Schnell-)Ladestationen, die auch von Menschen im Rollstuhl benützt werden können. Socar hat zwischen den einzelnen Ladeplätzen Sperrflächen markiert, um die Autos auf Abstand zueinander zu halten. Oder sie haben alle Ladeplätze in Rollstuhlparkplatz-Breite markiert. In beiden Fällen ist ein Transfer in den Rollstuhl möglich – die Grundvoraussetzung, um überhaupt zur Ladesäule zu gelangen. Fastned verzichtet ganz auf Markierungen. Hier parkieren vier Autos rund um die Ladestation und haben damit ausreichend Platz fürs Ein- und Aussteigen.
Zudem gibt es bauliche «Empfehlungen» für hindernisfreie Ladeplätze. Diese wurden von der Schweizer Fachstelle Hindernisfreie Architektur in ihrem sehr hilfreichen Merkblatt 150 «Rollstuhlgerechte Ladeplätze» publiziert. Eigentlich würde dieses Merkblatt den Bauherren und Baubewilligungsbehörden helfen, Ladestationen zu planen (und zu kontrollieren), die auch von Menschen im Rollstuhl verwendet werden können. Leider wird das Merkblatt aber kaum je herangezogen, oder ansonsten die Ratschläge darin ignoriert. Behörden und Private halten sich halt nur an Gesetze und Vorschriften, nicht an Empfehlungen. → Weitere Informationen zu diesem Aspekt
Fehlende verbindliche Vorgaben für Schnellladestationen an Autobahnen
Schnellladestationen auf Raststätten und Rastplätzen entlang der Autobahnen sind bei längeren Reisen im Auto sehr wichtig. Im März 2019 hatte das Bundesamt für Strassen ASTRA einen Auftrag für die Einrichtung von Schnellladestationen für Elektrofahrzeuge an 100 Autobahnrastplätzen an fünf verschiedene Betreibergesellschaften vergeben. Damals hatten wir uns an das ASTRA gewandt, um sicherzustellen, dass dabei auch die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden. Die zuständige Projektleiterin hat geantwortet, dass dies der Fall sei. Das ASTRA würde genügend Platz zur Verfügung stellen, und habe von Zuschlagsempfänger eine Bestätigung für die Zugänglichkeit verlangt. Ein späterer Projektleiter hat aber relativiert: «Aufgrund der teilweise sehr engen Platzverhältnisse wird es kaum möglich sein, diese Vorgaben auf allen 100 Rastplätzen zu erfüllen, wobei die Mindestanforderung von einem barrierefrei zugänglichen Ladeplatz pro Rastplatz jedoch in jedem Fall gewährleistet sein muss.»
Gerade bei Raststätten haben wir viele Ladestationen angetroffen, die im Rollstuhl nicht benützt werden können. Tatsächlich ist die Situation bei Rastplätzen besser – aber auch nicht überall. Zudem sind die Rastplätze, die ausser einer Toilette über keinerlei Infrastruktur verfügen, deutlich weniger attraktiv zum Aufladen von Elektroautos.
Hier hätten wir deutlich mehr vom ASTRA erwartet. Als Bundesamt für Strassen hätte es sicherstellen müssen, dass klare Vorgaben bestehen und eingehalten werden, und zwar für ALLE Schnellladestationen entlang der Autobahn, also auch bei Raststätten, die im Kompetenzbereich der Kantone liegen. → Weitere Informationen zu diesem Aspekt
Die Behörden schauen weg
Die Behörden schauen weg und schieben die Verantwortung anderen zu. Das ist leider nicht neu. Nicht wegschauen dürften aus Sicht des Rollstuhlblog.ch zwei Institutionen, die wir angeschrieben haben.
Jürg Röthlisberger, der Direktor des Bundesamts für Strassen ASTRA, antwortet uns, sie hätten den Betreiberfirmen ja empfohlen, alle vier Ladeplätze pro Rastplatz hindernisfrei zu gestalten. Ansonsten bestehe aus Sicht des ASTRA kein Handlungsbedarf. Und für Raststätten sei nicht das ASTRA, sondern die Kantone zuständig. Wir ziehen daraus das Fazit: Was schon gebaut wurde und nicht hindernisfrei zugänglich ist, bleibt so. Und weil nur Empfehlungen ausgesprochen werden und nicht verbindliche Vorgaben, sind auch zukünftige Ladestationen nicht hindernisfrei.
Andreas Rieder, Leiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB, antwortet uns ebenfalls ausweichend: «Das ASTRA stellt bei den Rastplätzen, für die der Bund zuständig ist, die Hindernisfreiheit sicher, Massnahmen seitens des EBGB sind nicht erforderlich.» Oder mit anderen Worten: Theoretisch ist der Fall klar, deshalb unternehmen wir selbst dann nichts, wenn das in der Praxis nicht so ist.
Wieder einmal muss der Schweizer Föderalismus als Ausrede hinhalten, und wieder einmal sind die betroffenen Personen die Leidtragenden. Wir sind von beiden Institutionen enttäuscht. Gelangt eine autofahrende Person im Rollstuhl zu einer Ladestation, die sie nicht benutzen kann, spielt es für sie keine Rolle, ob nun die Bundes- oder Kantonsbehörden schuld daran sind. → Weitere Informationen zu diesem Aspekt.
Eine amtliche Karte mit Ladestationen – aber ohne Informationen zur Rollstuhlgängigkeit
Im Jahr 2023 wurden in der Schweiz rund 4’000 neue öffentliche Ladestationen erstellt. Damit stehen Elektroautos in der Schweiz rund 16’865 öffentliche Ladeplätze zur Verfügung. Leider ist aber nicht bekannt, welche dieser Ladeplätze auch von Menschen im Rollstuhl benutzt werden können. Denn auf der Website «ich-tanke-strom.ch», auf der fast alle Ladeplätze auf der Schweizerkarte eingezeichnet sind und die vom Bundesamt für Energie BFE betrieben wird, fehlt diese Information.
«Leider sind im Datenstandard OCIP, der die Kommunikation mit den Betreibern regelt, hierfür keine Datenfelder vorgesehen», antwortet uns der Projektleiter Roadmap Elektromobilität des BFE. Und liefert auch gleich die Begründung nach: «Dazu besteht keine gesetzliche Verpflichtung.» Das bedeutet scheinbar gleichzeitig, dass ein solches Datenfeld nicht freiwillig eingefügt wird, obwohl diese Information für Autofahrende mit Behinderungen zukünftig sehr relevant sein wird. → Weitere Informationen zu diesem Aspekt
Der Blick ins Ausland
Unser Blick nach England zeigt, dass es durchaus möglich ist, Behindertenparkplätze mit Lademöglichkeit und Ladeplätze für Menschen mit Behinderungen zu erstellen. Hier zwei gute Beispiele aus England:
Unsere beiden Länder unterscheiden sich dadurch, dass in England der Wille und griffige gesetzlichen Vorgaben dafür bestehen, auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen einzugehen, während in der Schweiz beides fehlt. → Weitere Informationen zu diesem Aspekt
Wir fahren elektrisch
Klar, viele Leute fahren weiterhin ihr bisheriges Auto mit Verbrennungsmotor. Trotzdem müssen Ladestationen nicht erst in unbestimmter Zukunft auch im Rollstuhl benützbar sein, sondern jetzt. Auf Schweizer Strassen sind aber auch immer mehr reine Elektroautos zu sehen. Der Tesla Model Y war im 2023 nicht nur das meistverkaufteste Auto der Schweiz (unabhängig der Antriebsart), sondern auch von Europa.
Auch wir haben ein Model Y gekauft. Nach vielen Probefahrten mit anderen Elektroautos hat es uns am meisten überzeugt – und zwar mit grossem Abstand. Wir finden die etwas höhere Sitzposition optimal zum Transferieren. Der Innenraum bietet viel Platz, viel Staumöglichkeit und einen übersichtlichen Blick nach draussen. Am Besten gefällt uns aber, wie gut der Rollstuhl im Kofferraum verstaut werden kann. Tesla hat in allen Modellen den Stauraum so maximiert wie kein anderer Hersteller. Die Vertiefung direkt vor der hinteren Stossstange ist wie gemacht für einen Klapprollstuhl. Davor bleibt genügend Platz für einen Reisekoffer oder eine grosse Reisetasche. Diese kann auch im vorderern Kofferraum verstaut werden.
Apropos: Als einziger Automobilhersteller baut Tesla seine eigenen Schnellladestationen entlang von Autobahnen. Und sie sind ebenfalls kein bisschen rollstuhlgängig: Die Ladeplätze sind zwar breiter als gewöhnliche Parkplätze, aber immer noch zu schmal. Wir haben auch Tesla einen Liste mit Fragen geschickt, die vom Schweizer Tesla-Center in Bern an den Europa-Hauptsitz weitergeleitet und dort ignoriert wurde. Auch Tesla müsste mit klaren gesetzlichen Vorgaben dazu verpflichtet werden, seine Supercharger hindernisfrei zu bauen.
Fragen, informieren, sensibilisieren
Nachdem ich bei den Bundesbehörden auf wenig Unterstützung gestossen bin, habe ich bei den Kantonsbehörden angefragt. Aus zehn Kantonen habe ich eine Antwort erhalten. Tatsächlich wurde bisher eigentlich nirgends auf die Hindernisfreiheit von Ladestationen geachtet. Das sei aber keine böse Absicht, haben mir unter anderem Regierungsrat Christoph Neuhaus aus dem Kanton Bern versichert. Es hatte bisher einfach niemand daran gedacht, dass Ladestationen – als sowieso neues Thema – auch für Menschen mit Behinderungen benützbar sein müssen. Nun wollen viele Kantone Merkblätter oder Hinweise für die Gemeinden in ihrem Kanton ausarbeiten oder sie per Newsletter oder auf anderem Weg für hindernisfreie Ladestationen sensibilisieren.
Uns freut dabei sehr, dass wir im Kanton Bern Unterstützung von Grossrätin Simone Leuenberger erhalten haben. Sie hat zusammen mit sieben weiteren Grossratsmitgliedern in der Frühlingssession 2024 im Kanton Bern eine Motion für barrierefreie Ladestationen eingereicht. Super! Die Motion wird voraussichtlich im Herbst behandelt.
Zusätzlich haben auch die Nationalräte Philipp Kutter und Islam Alijaj zugesagt, sich auf Bundesebene für hindernisfreie Ladestationen einzusetzen. Diese Welle der Unterstützung stimmt mich optimistisch. → Weitere Informationen zu diesem Aspekt