Im Rollstuhl ans Gurtenfestival 2016

Eigentlich wollten wir schon am Donnerstagnachmittag auf den Gurten. Wegen dem Ansturm auf Muse solle man früh anreisen, hiess es. Doch dann regnet es dermassen, dass wir auf halbem Weg wieder umdrehen.

Gegen Abend starten wir dann einen neuen Versuch, als der Regen aufgehört hat. Schade, dass der Gurtenfestival-Veranstalter Appalooza weiterhin keine Lösung zum Parkieren für Rollstuhlfahrer schaffen will, die mit dem Auto anreisen. Der offizielle Parkplatz auf einer Wiese ist vom Regen sicher so durchweicht, dass der Rollstuhl steckenbleibt. Es gibt nach wie vor nur die Möglichkeit, Rollstuhlfahrer vor dem Gurtenbahn-Eingang auszuladen und dann das Auto parkieren zu gehen. Schon vor Jahren hatte ich angemerkt, dass alleine anreisende Rollstuhlfahrer sich kaum selbst ausladen und danach das Auto wegstellen können. Geändert hat sich trotz mehrfachem Nachfragen bei Appalooza nichts. Wir wissen uns aber selbst zu helfen und finden einen noch freien Behindertenparkplatz in der Nähe. Sonst bliebe immerhin die Blaue Zone, in der Inhaber einer Behindertenparkkarte seit ein paar Jahren unbegrenzt lange parkieren dürfen.

Die Warteschlange für den Bändelumtausch und die Gurtenbahn ist lange. Doch wir lassen sie links liegen – der Bändeltausch ist auch oben möglich – und steuern direkt auf den Ausgang der Gurtenbahn zu, auch wenn die Schilder in eine andere Richtung zeigen. Vom letzten Besuch her wissen wir noch, dass wir das so machen sollen. Naja. Einen Vorteil darf es schon haben, im Rollstuhl zu sitzen. Wenn es nur nicht so lange so steil bergauf gehen würde zur Talstation! Hier müssen wir nur kurz warten (gerade lange genug, um wieder zu Atem zu kommen) und können dann schon im Bähnli Platz nehmen.

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Wenig später sind wir oben angelangt. Das war einfach! Schwieriger ist dann die Schwelle auf den Rasenbereich und gleich dahinter auf die sechseckigen Bodenplatten, die das Gras schützen. Weiter rechts geht das besser, hier ist es nicht ganz so steil. Wir stehen also für den Bändelumtausch an und werden gleich von einer Mitarbeiterin an den VIP-Schalter geschickt. Dort sei das Anstehen mit dem Rollstuhl einfacher, weil das Gefälle viel kleiner ist.

Dieses Jahr sind die Tickets persönlich und man muss sich mit ausweisen, um die Bändel zu erhalten. Wir müssen rund zehn Minuten anstehen, bis wir an der Reihe sind. Zwei Stufen führen hoch zum Schalter – unpraktisch. Dann produziert das Lesegerät Fehlermeldungen. Nach einer Minute hat die Mitarbeiterin das Problem gefunden: Wir hätten keine VIP-Tickets und würden am falschen Ort anstehen. Wir sollen uns bei der Schlange am andern Kassen-Container anstehen.

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Doch so nicht. Ich reklamiere und sage, dass wir explizit hierher geschickt worden sind. Wir stehen sich nicht nochmals irgendwo an, sondern sie sollen das Problem lösen. Das ist dann auch ganz einfach: Der Vorgesetzte geht einfach hintendurch vom einen in den andern Kassen-Container, liest dort unsere Tickets erfolgreich ein und kommt mit den Bändeln zurück. Geht doch. Aber ich ärgere mich trotzdem über die Organisation. Es sollte schon untereinander abgesprochen werden, wo Rollstuhlfahrer nun anstehen sollen.

Nun stehen wir an für die Eingangskontrolle. Hier gibt’s keine Schilder mehr für Rollstuhlfahrer. Der Durchgang ist sehr eng aber die Sicherheitsleute kommen sofort her und verschieben die Absperrung. Wir sollen nächstes Mal den Eingang ganz rechts benützen, sagen sie uns. Mit Schild hätten wir das von Anfang an gewusst.

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Trotz allem geht’s wirklich schnell, bis wir auf dem Festivalgelände sind. Hier sind rundherum Wege abgesteckt. Die grossen, rechteckigen Metallplatten eignen sich wunderbar, um mit dem Rollstuhl vorwärts zu kommen. Erfreulicherweise sind die quer über den Weg verlaufenden Kabelkanäle nun rollstuhlgängig mit einer genügend langen Rampe hinauf und hinunter. Sie sind auch mit wenig Bodenfreiheit problemlos zu meistern. Die erste Verbesserung seit unserem letzten Besuch! Wenn nur die Leute den Weg freihalten würden und nicht ohne Rücksicht auf andere darauf herumlungern… Ich glaube, dass Schweizer einfach nicht für Festivals geeignet sind.

Die Rock’n’Roll-Tribüne – und sowieso die gesamte Infrastruktur – ist noch genau gleich wie vor fünf Jahren. Sie kommt uns noch ein bisschen weiter weg von der Bühne vor wie früher. Das liegt vielleicht an den zusätzlichen Zelten auf der Wiese vor uns. Und etwas ist ganz blöd: Während auf der Hauptbühne gespielt wird, wird auch auf der Zeltbühne gespielt. Das war laut dem Zeitplan zwar nicht so vorgesehen, ist aber so. Und die Rock’n’Roll-Tribüne befindet sich genau in der Mitte zwischen beiden Bühnen. Auf diese Form von Stereo-Hören würden wir gerne verzichten.

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Auch die weiteren Wege mit den rechteckigen Metallplatten und zwischendurch mit den sechseckigen Kunststoffplatten sind gut. Nur die sechseckigen Metallplatten zur Zeltbühne hoch sind ein Problem für den Rollstuhl. Sie haben einfach zu viele Löcher und Spalten. Und während sie unten noch gut zusammenpassen, gibt es oben immer grössere Zwischenräume und die Klammern fehlen. Wir bleiben deshalb prompt mit dem Vorderrad stecken. Und weichen aufs Gras aus. Mit dem starken Gefälle ist das zwar auch unpraktisch, aber gleichzeitig stossen, die Vorderräder hochhalten und um die Löcher herum navigieren ist einfach zu viel.

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Eigentlich wollten wir eine Band hören, die auf der Zeltbühne spielt. Doch das Konzert hat bereits begonnen und wir haben keine Chance, durch die vielen Leute hindurch auch nur in die Nähe des Zelts zu kommen. Hier gibt es für Rollstuhlfahrer sowieso nichts zu sehen: Trotz der mehrfachen Bitte wurde hier keine Rollstuhltribüne erstellt. Dies sei „aus geländetechnischen und dementsprechend aus Sicherheitsgründen“ nicht möglich, schreibt mir Appalooza. Diese Erklärung überzeugt mich nicht. Und ich denke immer noch mit Schrecken an unseren letzten Festivalbesuch zurück. Damals hatten wir am Abend ein Konzert auf der Zeltbühne gehört und es war so dunkel, dass ständig Betrunkene an den Handgriffen hängen blieben und über die Fussstützen stolperten, wenn nicht sogar über den ganzen Rollstuhl. DAS war und ist ein Sicherheitsproblem, Appalooza!

Immerhin hat sich scheinbar die Situation bei der Waldbühne verbessert, „indem dort nun ein Bau von der ewb steht, welcher mit dem Rollstuhl zugänglich ist und aus dem man bequem auf die Waldbühne schauen kann.“ Das glauben wir dem Veranstalter einfach mal – auf der Waldbühne schauen wir uns dieses Jahr kein Konzert an.

Wir haben Hunger und holen uns etwas zu essen. Doch auch vor den Essensständen hat’s Stufen. Naja. Solange jemand ohne Rollstuhl dabei ist, geht das gut. Bei der angenehmen Festival-Stimmung bin ich sicher, dass auch sonst jemand helfen würde. Wir können die Mix-Teller vom Inder und Mexikaner auf jeden Fall empfehlen.

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Wir essen auf der Rock’n’Roll-Tribüne, während ein weiteres Konzert läuft. Das Pfand-System auf Teller und Besteck hält dabei zwar das Festival-Gelände sauber, bedeutet für Rollstuhlfahrer aber eine zusätzlich Fahrt, die nötig ist.

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Nach dem Essen suchen wir die Toilette. Dazu müssen wir wieder zurück Richtung Eingang. Das Rollstuhl-WC befindet sich neben dem Sanitätszelt, wo auch der Schlüssel verwaltet wird. Es ist kein EuroKey. Wir warten, bis ein Sanitätsmitarbeiter fertig ist – das scheint hier auch das Mitarbeiter-WC zu sein – und rollen dann hinein. Der WC-Container ist gerade gross genug für den Rollstuhl. Hier ist’s sauber, hell und dank der eingebauten Heizung auch warm.

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Apropos warm: Bei unserem Besuch am Samstag schauen wir im Gurten-Restaurant vorbei. Der Selbstbedienungs-Bereich hat geöffnet und freut sich über Festivalbesucher. Wir trinken eine heisse Schoggi und bedienen uns beim Dessert. Das ist jetzt genau das Richtige. 🙂 Das Restaurant ist überhaupt nicht überfüllt, so dass wir uns richtig entspannen können. Auch andere sind hierher gekommen. Besonders beliebt ist Rösti mit Bratwurst und Zwiebelsauce. Saucen sind an den Essensständen nämlich kaum zu bekommen.

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Ausser dem Selbstbedienungsteil ist alles geschlossen und auch der Zugang zum Lift und damit zum Behinderten-WC ist blockiert. Hier können also nur gehende Personen aufs WC. Schade! Das wäre natürlich noch eine Spur besser gewesen als der WC-Container auf dem Festival-Gelände.

Dann beginnt das Muse-Konzert. Was für eine Show! Dieses Jahr sind wir auch vorbereitet und haben einen Dreibein-Stuhl dabei. So sitzen wir beide auf gleicher Höhe und können das Konzert wirklich zusammen geniessen. Ein-, zwei- oder Vierbeinstühle sind übrigens verboten, auch wenn’s keinen Sinn macht. Nur Stühle mit drei Beinen sind zugelassen. Die gibt’s zum Beispiel bei SportXX für 9.90 Franken.

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Nach dem Konzert ist es fast ein Uhr nachts und draussen stockdunkel. Doch wir haben vorgesorgt und Leuchtstäbli gekauft (Grosspackungen für wenig Geld z.B. bei Mediamarkt), die wir um die Beine binden. So sollen uns die Leute trotz der Dunkelheit erkennen.

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Wir sind natürlich nicht die einzigen, die nach dem Muse-Konzert nach Hause wollen. So ist auch die Warteschlange ziemlich lange. Auch für die VIP-, Crew-, Medien- und Rollstuhlfahrer-Schlange. Wir befürchten schon eine lange Wartezeit, als ein Feuerwehrmann die Rollstuhlfahrer bittet, mitzukommen, und uns um den Wartebereich herum direkt zur Rampe zum Rollstuhleingang führt. So fahren wir schon mit dem übernächsten Bähnli wieder nach unten und sind wenig später im Auto und auf der Rückfahrt nach Hause.

Hat es uns auf dem Gurten gefallen? Ja, sehr! Die Stimmung war toll und Mitarbeiter und Besucher sehr hilfsbereit. Könnte der Festivalbesuch für Rollstuhlfahrer weiter verbessert werden? Auf jeden Fall. Trotz der Optimierungen seit unserem letzten Besuch (hier übrigens der damalige Bericht) bleibt noch viel Verbesserungspotenzial bezüglich der Parkiersituation, Beschilderung, Instruktion der Mitarbeiter, stufenloser Zugang zu den Kassen und den Essensständen und vor allem Rollstuhltribünen bei ALLEN Bühnen. Mehr als hilfreich wäre auch ein weniger steiler Zugang zur Zeltbühne. Und dass sich das rollstuhlgängige WC direkt neben der Rollstuhltribüne befinden würde statt vorne beim Eingang.

In Anerkennung der Verbesserungen lautet unser neues Fazit: Der Gurtenfestival-Besuch im Rollstuhl ist bedingt empfehlenswert.

1 Kommentar zu “Im Rollstuhl ans Gurtenfestival 2016”

  1. Merci für den super Blog! 🙂 Wir sind zwar nicht mit dem Rollstuhl unterwegs, doch ist meine Freundin nicht gut zu Fuss unterwegs und hat starke, neurologisch bedingte, Schmerzen überall am Körper. Also haben wir den Güschen angefragt, ob es nicht möglich wäre, nicht beim Bähnli anstehen zu müssen. Da dies für meine Freundin schlichtweg nicht möglich ist. Die Antwort: Kauft euch ein VIP-Ticket, dann müsst ihr nicht anstehen. Lustig, wie soll sich ein bedingt arbeitsfähiger ein Ticket für Fr. 160.00 leisten können nur um nicht beim Bähnli anstehen zu müssen?! Soziales Engagement = 0. Schade, dass die kleine Masse kaum was auslösen kann. Doch je mehr solche Geschichten wie deine publik werden, je mehr Einfluss wird erreicht – da bin ich mir sicher. Go for it! Super Sache!

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